#16 ein Wunder

Wechseln die meisten Kinder ihren Traumberuf monatlich, wollte Dominik seine gesamte Jugend über Meeresbiologe werden. Mit einer entsprechenden extra Portion Aufregung fahren wir Richtung Andoya zum zweiten Anlauf der Walsafari. Dominiks Tour startet diesmal schon um 09:00 Uhr. Damit ja nichts schief geht, übernachten wir auf dem Parkplatz vor dem Walmuseum.

Als sich die Türen des Haupteingangs am nächsten Morgen öffnen, begegnen uns die ersten Personen mit einem ausgehändigten Ticket. Dominik hat Grund zur Freude, denn er wird wohl Wale sehen! Warum wir uns in diesem Moment schon so sicher sind? Das Wetter scheint hier der größere Risikofaktor zu sein. Fahren die Schiffe raus, ist die Wahrscheinlichkeit gering keine Wale zu sehen, denn etwa 10km vor Andenes trifft der Golfstrom auf dem Bleik-Canyon. Der Canyon vertieft das Meer von 300 m auf über 1500 m. Der Golfstrom schiebt die Nährstoffe aus der Tiefsee den Canyon hinauf an die Oberfläche. Perfekte Bedingungen für die Nahrung der Fische und Wale und für Menschen, die dieses beobachten möchten.

Zum Warm-up gibt es eine 45-minütige Tour im angeschlossenen Museum. Hauptaugenmerk liegt auf dem Pottwal, da dieser ganzjährig vor der norwegischen Küste beheimatet ist. Buckelwale sind im Herbst und Frühjahr auf der Durchreise, Blauwale zu weit auf offener See und Orcas leider nur im Winter zu treffen. Eines der Ausstellungsstücke ist ein Skelett eines Pottwalbullen. Mit etwa 18m Länge schon mal ein imposanter Vorgeschmack auf das größte Raubtier des Planeten. Der Wal wurde Ende der 90er Jahre angespült. Zum skelettieren wurde er 3 Jahre lang im Hafenbecken liegen gelassen, bis Fische, Krabben und sonstige Tierchen alles Essbare verwertet haben. Lediglich der Kopf stammt von einem anderen Wal, da der Originalschädel im Hafenbecken von einem anlegenden Kutter zerstört wurde. Der Schädelknochen wirkt, als ob die Stirn fehlen würde. Diese ist beim Pottwal mit einer öligen Substanz gefühlt, die als Echolot dient, aber auch im letzten Jahrhundert begehrt für die Jagd war. Dieses Öl wurde zur Kosmetik- und Lampenölherstellung verwendet.

Nach der schon spannenden Theorie, folgt nun endlich die Praxis. Unser Schiff die MS Reine liegt im Hafen bereit. Es ist ein ehemaliges Walfangboot, welches die Seiten gewechselt hat und uns Schaulustige nun zu den Meeressäugern bringt. Eine Sicherheitsanweisung in vier Sprachen (norwegisch war nicht dabei) später, sind wir auf offener See. Das Boot schaukelt, aber es ist eine gemütliche Fahrt. Vermutlich würde dies schon zum jetzigen Zeitpunkt nicht jeder meiner Mitreisenden so beschreiben.
Nach einer guten Stunde erreichen wir den Bleik Canyon. Die Aufregung steigt. Ab diesem Zeitpunkt können wir jederzeit mit einer Walsichtung rechnen. Ich habe meinen sicheren Platz an der Reling mit hervorragendem Blick und starre gespannt auf das Meer. Es folgt Ernüchterung. Der Kapitän lauscht angestrengt nach möglichen Wallauten mit seinen Kopfhörern, aber bislang nichts. Das Boot ist mit einem speziellen Mikrophon ausgestattet, um die Pottwale zu finden. Es registriert die Klicklaute der Pottwale, die sie bei der Jagd ausstoßen. Mit gut 250 Dezibel ist dies das lauteste Geräusch der Tierwelt. Zum Vergleich: ein Flugzeug startet mit ca. 165 Dezibel.

Plötzlich ist ein erstes Raunen auf der MS Reine zu hören. Wow! Da ist er – ein Zwergwal am Horizont. Der durchaus irreführende Name beschreibt einen bis zu 10 m langen Wal, der auch noch in der Entfernung gut sicherbar ist. Keine 5 Minuten später traut sich ein Zweiter näher an unser Schiff heran. Er zählt zu den flinkeren Walen und ist nach zwei kurzen Schwimmbewegungen auch schon wieder abgetaucht. Nach dem berauschenden Gefühl tatsächlich einen Wal gesehen zu haben, folgt der gedankliche Dämpfer. Das war es. Wal gesehen, Walgarantier erfüllt, ab nach Hause.

Zum Glück nicht, der Kapitän hat Klicklaute geortet. Das Schiff nimmt Kurs in Richtung Pottwal, die Klicklaute werden für uns über die Boardlautsprecher übertragen.
Das einzige Problem, die Tiere jagen Tintenfische in der Tiefsee in etwa 1000m Tiefe. Die Laute stoßen sie jedoch nur bei der Jagd aus. Mit 5-6 Km/h sind sie allerdings nicht gerade die Schnellsten. Bis der Pottwal demzufolge auftauchen wird, können einige Minuten vergehen und so treibt die MS Reine wartend auf den Pottwal auf der offenen See, wankt mit den Wellen und aus der einst gemütlichen Bootsfahrt wird eine ewig währende Fahrt wie mit einer Holzachterbahn. Ein günstiger Moment, um wieder in die erste Reihe an der Reling aufzurücken. Um den Zwergwal zu sehen, musste ich meinen ursprünglichen Platz aufgeben und stand auf der anderen Schiffsseite in zweiter Reihe. Den Pottwal darf ich mir nicht entgehen lassen und tatsächlich finde ich einen Platz direkt an der Reling. Aber der Platz ist besetzt – irgendwie. Auf dem Boden zusammengesunken sitzt eine Dame, weiß wie die Reling selbst, über ihre „Seekrankheitstüte“ gebeugt. Insgesamt nehmen die Tüten an Bord zu und die Crew ist mehr mit den Seekranken beschäftigt, als mit der Ausschau nach dem Wal. Zum Glück wartet Mine bei Frida und Juli.

Dann endlich die Erlösung. Der Pottwal taucht auf. Die Zwergwale waren schön anzusehen, aber der 50t Pottwal beeindruckt einfach nur. Vom oberen Deck, welches durch das Schaukeln mittlerweile einige freie Plätze bietet, kann man den Wal in seiner gesamten, imposanten Erscheinung sehen. Dafür hat sich jede wippende Welle gelohnt! Wir folgen ihm während er Luft holt, bevor er erneut zur Jagd abtaucht und uns bilderbuchgleich seine Finne zeigt.

Weil es so schön ist, will die Mannschaft warten, bis er erneut auftaucht. Ich bin überrascht mit welcher Geduld hier Wale beobachtet werden. Leider passt sich mein Befinden dem der meisten Mitreisenden an. Einen Schweißausbruch, eine gereichte Tüte und 5 Minuten sitzen später, siegt der Geist über den Körper. Der Pottwal lässt uns aber auch besonders warten. Dauert ein Tauchgang der Tiere normalerweise zwischen 30-40 min, lässt sich unser Wal erst nach einer Stunde wieder blicken, dafür aber umso schöner.

Als der Wal zum zweiten Mal zur Jagd in die Tiefsee abtaucht, dreht auch die MS Reine Richtung Heimathafen. Unsere Rückfahrt wird versüßt mit Kaffee, Tee und zwei weiteren Zwergwalsichtungen. Angeschlagen, aber überglücklich erreiche ich Frieda, Jasmin und Juli.
Unsere Reise kann weitergehen, denn Dominik hat Wale gesehen!